Eingeschobenes

Einmal im Monat nehme ich an einer Schreibwerkstatt teil – einem kreativen Raum, in dem kleine Textfragmente entstehen, die oft keinen Anfang und kein Ende haben. Es sind keine ausgearbeiteten Geschichten, sondern Momentaufnahmen, spontane Einfälle oder spielerische Übungen mit Sprache.

Da dieser Blog dem Schreiben gewidmet ist, dachte ich mir: Warum nicht auch diese kleinen Stücke hier teilen? Sie sind schließlich ein Teil meines kreativen Prozesses – und vielleicht lockern sie den Blog ein wenig auf.

Heute möchte ich ein Fragment mit euch teilen, das rund um Weihnachten entstanden ist. In der Übung ging es um zwei leere Stühle, die sich jedes Jahr an der Weihnachtstafel finden und was man aus dem Thema der zwei leeren Stühle machen kann. Also, warum stehen die da? Was machen die da? Es sollte erkundet werden, was man alles aus einem so kleinen Detail herausholen kann und, wenn möglich, das mit Weihnachten verknüpfen. Das habe ich versucht, aber bitte erwartet keine abgeschlossene Geschichte, sondern eher einen Ausschnitt, einen Gedankenblitz – ein kleines Stück Schreibwerkstatt-Atmosphäre.

Weihnachten bei uns

Weihnachten.

Weihnachten gibt es bei uns in der vor 1996 und in der nach 1996 Version.

Sie sind unterschiedlich, doch einige Sachen sind in beiden Versionen gleich.

So zum Beispiel trudeln jedes Jahr am Nachmittag des 24.12. alle bei meiner Großmutter ein.

Sie überfallen mich, wie Oma sagt.

Ab 14 Uhr muss man damit rechnen, dass in etwa halbstündigem Abstand die Türglocke geht und nach und nach alle ankommen.

Alle, das sind:

Onkel Peter mit Tante Birgit. Onkel Jens mit Tante Silvia, nebst ihren Töchtern Jenny und Josefine. Manchmal kommt auch noch Alex, Tante Silvias „Ältester“, wie sie immer sagt. Dabei weiß jeder, dass Alex aus der ersten Ehe von Onkel Jens und seiner anderen Frau, Tante Steffi, und somit nicht Tante Silvias Sohn ist. Aber gut … Zuletzt, wie immer, kommen Tante Christine mit ihrem Mann Thomas und sowie deren Tochter Astrid, deren Mann Lars, der Tochter Lea und Hund Bully.

Und allerspätestens dann, wenn diese letzte Fuhre an Verwandten eingetroffen ist, der Hund allen im Weg steht, spätestens dann bricht bei Oma der Schweiß aus und im Gästezimmer der Streit unter uns Kindern.

Bei uns Kindern, weil es darum geht wer den Teller mit den Plätzchen und der Schokolade oder aber die Fernbedienung haben darf.

Bei Oma, weil es darum geht zwei Tische für den Familienkaffee allein einzudecken.

Und die leeren Stühle richtig zu arrangieren.

Noch rechtzeitig. Also ehe wir das geschmückte Wohnzimmer betreten in dessen Mittelpunkt die Tanne mit allen Geschenken prangt. Und zwei leere Stühle daneben. Etwas abseits, wie zufällig neben dem Tisch hingestellt, die von allen Anwesenden mit Respekt behandelt werden, während sie gleichzeitig auf Zehenspitzen um sie herumtrippeln, als ginge von ihnen eine ansteckende Krankheit aus, die niemand haben will.

Das ist unser Weihnachtsfest. Und es ist jedes Jahr das gleiche.

Alle kommen an, alle reden wirr durcheinander, alle stolpern über den Hund, wir Kinder lärmen und streiten uns im Gästezimmer, irgendwann fliegen Plätzchen durch die Luft, Oma schwitzt und stöhnt ungehört in Küche und Wohnzimmer und die beiden Stühle stehen jedes Jahr wie ein unverrückbares Mahnmal zwischen Baum und Festtagstafel und alle bemühen sich ihnen auszuweichen, sie nicht zu bemerken.

Dass ist unser Weihnachten und an den Ablauf, die goldene Regel, bemerke nicht die Stühle!, halten sich alle.

Dachten wir.

Doch, dass es nicht jeden so geht, wurde uns letztes Jahr bewusst, als Alex, besagter Alex auf den Tante Silvia so stolz ist und der eigentlich der Sohn Tante Steffis ist, als besagter Alex nach Jahren der Abstinenz wieder zu Weihnachten erschien. In Begleitung. Und zwar nicht nur eines kleinen kläffenden Etwas, dass er als „Hund“, Onkel Thomas als „Kläffer“, und meine jüngere Schwester als „Meerschwein an der Leine“ bezeichnete, nein, zu dem „Hund“ im Handtaschenformat gehörte auch eine Frau. Constanze. Alex neue Freundin. Die uns anlässlich des Festes der Familie und der Liebe fabrikneu vorgefü … ich meine vorgestellt werden sollte und ich übertreibe nicht, dass weder sie, noch wir, wirklich auf so eine Aufregung vorbereitet waren, denn, schon in den ersten fünf Minuten im Familienkreis beginn sie den schlimmsten Faux Pas, den sie hätte machen können. Sie schnappte sich einen der besagten zwei Stühle, die zwischen Prachttanne, Geschenkhaufen und Festtagstafel ihr Dasein fristen und ließ sich darauf plumpsen.

Die Stille im Zimmer, die erschrocken aufgerissenen Augen, das hektische umschauen, ob Oma im Anmarsch sei, dann das gemurmelte „Oh … Gott!“, hätte sie dazu animieren können sofort wieder aufzuspringen, aber … Nein. Constanze, die Standhafte, blieb sitzen.

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